Jeder Mensch ist Zeitzeuge und wird durch sein Umfeld bis zu einem gewissen Grad geprägt.
Bei Jack Zgraggen (geb. 1954 in Silenen) waren die prägenden Jugendjahre die frühen 70er, die er als Lehrling in der Industriestadt Winterthur, einer Rock-band zugehörend und in Verweigerung gegenüber dem Establishment verbrachte. Anschließend, von 1975 an zog er sich in eine Aussteigergemeinschaft im Tessin zurück, wo er in Kontakt kam mit anthroposophischem Gedankengut, und psychedelischen Stimmungen.
Diese-zeitbedingten-gesellschaftlichen Stömungen trafen bei Jack Zgraggen auf eine charakterliche Disposition, die ihn ab 1978 zum Malen geradezu drängte:beharrlich, sorgfältig, handwerklich begabt, erd-und familienverbunden, skeptisch, eigenständig bis eigenbrötlerisch reagiert er mit Zorn auf die Zwänge der Gesellschaft, auch auf diejenigen der seinem Empfinden nach enthusiastisch-sektiererischen Subkultur und mit Rückzug auf die ihm auferzwungene Entfremdung.
Eigentlich aus dem Urnerland stammend, begann er sich 1977, im Misox zuerst in Giova, dann in Leggia, sein eigenes Universum aufzubauen: in Tagarbeit als Bauer mit eigenem Hof und des Nachts, erst in Pastell und später in Ölmalerei festgehalten. Introspektion, die ein Leben im Unterholz zutage fördert, eine Welt der kleinen und kleinsten Figuren und Gegenstände, welche, ineinander verwoben, bis fast zur Abstraktion aneinandergefügt, den Eindruck einer utopischen Gnomenwelt erweckt; abgeschlossen von der bedrohlichen Umwelt und in eigenes närrisches Tun verstrickt.
Deshalb drängen sich Vergleiche zum phantastischen Realismus, zu Max Ernst, aber auch zu Pieter Brueghel d:Ä. und Hieronymus Bosch auf, obwohl Zgraggen gestalterisch eine andere Sprache benutzt, ein eigenes Formvokabular autochthon und aus der Beobachtung der Natur entwickelt hat, obwohl er gestalterische Mittel wie Farbauftrag, Komposition und Tiefenwirkung im Bild sich beharrlich selber in Nachtarbeit erkämpft hat. In diesem Sinne ist er ein naiver Maler, der frei von ausseren Einflüssen und Schulen sein Werk ganz aus sich heraus entwickelte und erarbeitete.Die Musik scheint ihm dabei eine Stütze gewesen zu sein - zunehmend gelingt es ihm seine Bilder zu rhythmisieren, bis hin zu einem Informell oder amerikanischen Allover. 1989 gibt er die Landwirtschaft auf, stellt dann regulmässig aus. Eine Art Befreiungsprozess,Ausdehnungsprozess zeichnet sich in seinem Werk ab, nimmt das ganze Format in Anspruch, lässt mehr und immer differenzierter Farbkontraste zu, intensiviert den Wechsel zwischen Realismus und Abstraktion, figurativen Elementen und Gesten, Zeichen.Folgerichtig wagt Zgraggen nun einen weiteren Schritt, vom Bild zur Plastik.Kleine Plastiken zunächst, Musiker bezeichnenderweise, die einem Holzstapel entwachsen.
Beatrice di Pizzo lic.Phil. 1 (1999)
JACK ZGRAGGEN,
EIN VISIONÄRER UND METAPHYSISCHER MALER
von Dalmazio Ambrosioni (2008)
Uebersetzung vom Italienisch ins Deutsch: Susanne Neumann
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Der erste Kontakt mit Jack Zgraggens Malerei hält einen Überraschungsmoment bereit. Es erwischt uns unerwartet und völlig unvermittelt beim Versuch sie in gängige Kategorien zu ordnen. Einerseits ist man betroffen, angezogen, involviert. Auf jeden Fall interessiert und fasziniert, andererseits ermüdet man auch sehr schnell bei der Herausforderung sich zwischen figurativen und abstrakten, zwischen realistischen und fantastischen Komponenten zurechtzufinden.
In diesen Fällen wäre der Begriff Magische Malerei am passendsten. Magie, ein Begriff, der sich in dieser Zeit der kulturellen Annäherungen und esoterischen Verführungen fast immer eignet.......
Das gilt aber nicht für Zgraggen und seine Malerei, die sich vor einem gut definierten Hintergrund entwickelt hat. Sie konserviert Augen blicke der Hippiebewegung der berüchtigten Sechziger Jahre und um noch weiter zurück zugehen, der Beat Generation. Persönlichkeiten eines Kalibers wie Jack Kerouac (On the Road), William Burroughs (Naked Lunch), Allen Ginsberg `s Howl, Neal Cassidy, und schliesslich Bob Dylan und die wunderbare Verquickung von Dichtung, Literatur und Pop- Musik, die die Welt ändern wollte (und auch sollte).
In Zgraggens Arbeiten finden wir genau jene Atmosphäre und Farbigkeit dieser Zeit der Blumenkinder wieder, der Hunger nach Freiheit und Freiraum, die psychodelische Sinneserweiterung der Musik und der starke Wille nach gesellschaftlichen Veränderungen.
Zgraggen spielt mit den Darstellungen der Vorstellungskraft und den Bildern der gesellschaftlichen Veränderung.
Eine neue Wirklichkeit wird erschaffen, nicht nur aus Poesie und Farbe, sondern eine neue Welt, in ihrer Gesamtheit bunter und auch visuell authentischer, spontaner, und großzügiger, weil ohne Kompromisse. Es ist gerade Zgraggens Kompromisslosigkeit, seine oft radikalen Entscheidungen mit denen er sich mit großer Kohärenz dem Leben stellt: der Natur, dem Territorium, der Kunst. Koste es, was es wolle.
KUNST ALS FREIHEI
Auch in seiner Malerei finden wir diese Geradlinigkeit und Kompromisslosigkeit. Keine Umschreibungen, keine Imitation oder oberflächliche Effekthascherei aber eine Kunst, die in ihrer Vollständigkeit die Persönlichkeit und den Lebensstil Zgraggens interpretiert
Das große Interesse an Farben, Licht, Bewegung und Musikalität in der Malerei ist deckungsgleich mit der Notwendigkeit der Übertreibung der Zeit in der wir leben: mehr Vorstellungskraft, mehr Fantasie, mehr Spontaneität und Schönheit. Eine Öffnung also gegenüber dem Unbewussten, der Ursprünglichkeit, der primitiven Kunst, der Populärkultur, selbst in seiner gebrochensten, absurdesten Erscheinungsform.
Jack Zgraggen sucht in der Kunst die Freiheit, einen Freiraum für sich und für unserer Zeit. Und das tut er mit Sturheit und Langmut, über vierzig Jahre zurück schafft er einen Verbindungsstrang zu den Utopien der sechziger Jahre und zur Jugend. Zu den new frontiers in der Politik, der neuen Linken in Amerika, mit einem völlig anderen Auftreten als heute, und dem Amerika des Civil Rights Movement (Bürgerrechtsbewegung). Kurzum die Ideen einer gerechteren Welt, entspannter und glücklicher im Summer of Love. Woodstock, Monterrey und andere fantastische Festivals, die Musik im Ohr, die Utopie vor Augen. Das alles wird zu einem unvergesslichen, unwiederbringlichen, fantastischen Moment der sich widerspiegelt in dieser überbordenden Malerei . Hier geht es aber nicht um Sehnsucht oder eine Erinnerungsreise zurück in die Vergangenheit, es geht nicht um das Gefühl irgendetwas unwiederbringlich verloren zu haben; vielmehr geht es um eine Möglichkeit, oder besser, um ein Bewusstsein, durch die Kunst etwas wiederzubeleben, das hier und heute wieder Gültigkeit besitzen könnte.
ALTERNATIVE KULTUR UND UTOPIE
Das Werk Zgraggens (sicher in seiner Malerei, aber auch in seinem skulpturalem Schaffen, das leicht und gefühlsbetont agiert, gleichzeitig intensiv, natürlich und povera) fügt sich ein in die lange Kette des Fantastischen Realismus oder -wenn man will- in die gloriose Bewegung der fantastischen und metaphysischen Malerei. Also in eine kunstgeschichtlichen Kontext mit Odilon Redon und Alberto Savinio, Marc Chagall, Max Ernst und Joan Mirò. Und weiter zurück mit einem Blake, einem Caspar David Friedrich oder Arnold Böklin. Möchte man noch weiter zurückgehen, dann mit Grünewald oder Brueghel, dem Älteren, auch Hieronymus Bosch. Und auch einen der unseren könnte man nennen, Giuseppe Arcimboldi, (in dem Sinne, dass er in Mailand geboren wurde, also in diesem kulturellen Zwischenraum, zu dem auch wir gehören). Visionäre Maler eben. Die Meister der visionären Ahnung und Utopie, der neuen und alternativen Entwürfe.
Es ist eine Bestätigung der Gegenkultur, der rote Faden jener Künstler, die uneingeschränkt innovativ, revolutionär und in offen gezeigten Gegenströmungen zur Kultur ihrer Zeit agierten.
Nie manieristisch oder imitierend, aber ausgestattet mit der Fähigkeit, das Neue und den Umbruch zu erkennen und eine intensivere Beziehung zur Realität in seiner Gesamtheit herzustellen, nicht unbedingt zu einer physischen, materiellen Wirklichkeit, aber zu jener inneren, emotionalen, psychischen und spirituellen Wahrheit.
VISIONÄRER REALISMUS
Auch Zgraggen interessiert sich nicht für eine Darstellung seiner und unserer Zeit, an einer exakten Abbildung der Welt, wie wir sie sehen. Vielmehr geht es ihm um die Wahrnehmung von Bilderwelten, dem Interagieren der Wirklichkeit, die uns umgibt mit einer Innenansicht, also dem Überkreuzen der Dinge, die wir Tag für Tag tun mit dem, was wir sind.
Mit der anthropologischen Erinnerung, mit dem Wissen um Herkunft und kulturellem Erbe, was wir in uns tragen und der Erfahrung, welche die Psychologen das Erlebte nennen. Visionärer Realismus. Das scheint ein begrifflicher Widerspruch, versinnbildlicht aber sehr gut die Idee.
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Der realistische und figurative Zugriff in Zgraggens Malerei wird aufgelöst in einem Ort der Vorstellungs- und Fantasiewelt, in einer überraschend neuen Vision.
Ausgangspunkt sind unschwer entzifferbare Motive, wie Figuren, Gesichter, Natur, Landschaft, Erinnerungen, Symbole, Zitate..... und anhand dieser Chiffres entführt er uns in seinen geheimen,espressiven Wald.
Hier können wir uns mit Hilfe von Zeichen und Hinweisen orientieren, Hinweise, die wie kleine Steinchen ausgelegt sind und den Weg nach Hause zeigen.
Sie geben der visionären Welt, in die wir geworfen werden Sinn. Klare Bezugs-punkte, deren Existenz auf mündlicher Überlieferung gründet, auf Fabeln, Märchen und Sagen. Auf Ängsten, Träumen und Albträumen, aber auch auf spielerische und glückliche Visionen. Die Welt des Unbewussten stülpt sich über die Realität des Alltäglichen.
Im Werk Zgraggens sind wir ständig zwischen Realität und Traum hin und her geworfen.
Genau so, wie in der volkstümlichen und bäuerlichen Welt (typisch für die alpine Realität), die es verstanden hat, einen direkten, funktionalen und produktiven Bezug zu den Dingen und dem Territorium herzustellen und es gleichzeitig geschafft hat, die eigene Freiheit, die Kreativität, Vorstellungskraft und Vision zu erhalten und zu pflegen.